Erziehung – Mit den Kindern die Welt deuten

Von Erich Renner · · 2002/10

Maßnahmen zur Erziehung von Kindern sind sehr unterschiedlich. Sie sind von der jeweiligen Kultur geprägt. Erziehung kann niemals eins zu eins in andere Lebensverhältnisse übertragen werden. Doch ein Blick in andere Kulturen kann auch anregend für das eigene Verhalten sein.

Fragt man bei Fachleuten nach, was heutzutage Erziehung, was Erziehen, was pädagogisches Handeln sei, dann erhält man manchmal Antworten, die einem echt zu denken geben. In einer Einführung in die Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft wird erläutert, pädagogisches Handeln sei geprägt von Antinomien, das heißt von Widersprüchen der Moderne wie Individualisierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Zivilisierung. Bringen derartige Definitionen – trotz mitgelieferter Analysen – Rat- und Hilfesuchende wirklich weiter? Doch es gibt auch ganz andere Bücher. In einem, das die Sechs- bis Zwölfjährigen zum Thema hat, spricht der Verfasser von Ambivalenzen des Erziehens. Er meint damit einerseits die alltägliche gelebte Erziehung in den Familien und andererseits eine allgemeine gesellschaftliche Pädagogisierung. Man neige dazu, hier wie dort Kinder nur unter dem Blickwinkel von Schutz und Entwicklung zu sehen. Aber Kinder hätten auch Kompetenzen. ,,Es ist auffällig, mit welcher Leidenschaft in der Diskussion um Erziehung Konzepte und Gegenkonzepte entworfen, verworfen und wiederentdeckt werden. Dabei ist es so selbstverständlich, dass man es kaum zu formulieren wagt: Der Verzicht auf Erziehung (inklusive der Fehler und Entgleisungen, die auch passieren) ist ebenso unmöglich wie eine expansive Pädagogisierung kindlicher Lebenswelten verhindert werden muss.“ Wie also soll, gemessen an diesen Grundsätzen, Erziehung konkret sein, wie soll sie stattfinden? Mit welchen Zielen? Mit welchen Mitteln werden Ziele verwirklicht?

Zweifelnde ZeitgenossInnen stellen vielleicht die Frage, ob es bei der Erziehung nicht gewisse Grundverhältnisse geben müsse, deren Bedeutung unstrittig seien. Vielleicht liege es an Menschen abendländischer Kultur, deren Blick auf allgemein gültige menschliche Grundverhältnisse wegen falsch verstandener Emanzipation verschüttet sei. Kritikusse wagten es dann sogar, über unseren kulturellen Tellerrand hinwegzuschauen, um fremde Erfahrungen einzuholen.
Der französische Ethnologe und Psychoanalytiker Georges Devereux diskutiert genau dieses Thema, wenn er fremdkulturelle Lebensverhältnisse anhand vorliegender Forschungsergebnisse einschätzt:
„Kompetente Kollegen sind der Auffassung, dass (so genannte) Primitive die menschlichen Beziehungen in gar mancher Hinsicht besser zu regeln verstanden als wir. In vielen Formen indianischen Zusammenlebens herrschte eine soziale und psychische, mit persönlicher Freiheit durchaus vereinbare Sicherheit, die auch in der Atmosphäre der progressivsten amerikanischen Familien nicht ihresgleichen findet. Die Sicherheit des Indianers ergab sich zuvörderst aus der Gewissheit, dass jedes Individuum geachtet und geschützt wird, und sei es auch nur, weil es eben zufällig mit einem anderen verwandt ist. Familien-, Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Stammesbindungen schufen (…) ein mannigfaltiges Sicherheitssystem, welches auch bei fortgesetzten Verfehlungen des Individuums als System funktioniert und in welchem Liebe und Anerkennung in vieler Hinsicht bedingungslos und selbstverständlich sind.“

Devereux warnt davor, solcherart entwickelte „emotionale Sicherheit“ nicht deshalb zu übersehen, weil sie möglicherweise in einer „kläglichen Welt magerer Pferdchen, morscher Holzhütten oder Hogans und erodierter Äcker zustande gekommen sei“. Gemeint sind die Lebensverhältnisse vieler Reservationsindianer. Die Sioux-Lakota-Frau Mary Crow Dog, geboren 1953, bestätigt diesen Hintergrund:
„Im Mittelpunkt der alten Sioux-Gesellschaft stand die Tiyospaye, die erweiterte Familiengruppe, die elementare Jagdgemeinschaft, die Großeltern, Onkel, Tanten, Schwäger und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen einschloss. Die Tiyospaye war wie ein warmer Mutterleib, der alle umgab. Kinder wurden ständig umsorgt von mehreren Müttern, und mehrere Väter beobachteten sie und brachten ihnen etwas bei. Der leibliche Vater wählte einen zweiten Vater, einen angesehenen Verwandten mit besonderen Fähigkeiten als Jäger oder Medizinmann, der ihm helfen sollte, seinen Jungen großzuziehen. Für die Mädchen galt das Gleiche. Eine besondere Stellung bei der Fürsorge für die Kleinen nahmen in unserem Stamm immer die Großeltern ein, weil sie ihnen mehr Zeit widmen konnten, wenn der Vater zur Jagd ging und die Mutter als Hilfe beim Abhäuten und Ausweiden mitnahm.
Die Weißen zerstörten die Tiyospaye – nicht zufällig, sondern aus politischen Gründen. Der eng verbundene Clan, unerschütterlich in seiner althergebrachten Lebensweise, war ein Stolperstein auf dem Weg der Missionare und Regierungsagenten, seine Traditionen und Bräuche waren für das, was der weiße Mann „Fortschritt“ und „Zivilisation“ nannte, eine Barriere. Die Zivilisatoren leisteten ganze Arbeit, vor allem unter den Mischlingen, und setzten so lange die Methode Zuckerbrot und Peitsche ein, bis es weder die Tiyospaye noch die von den Weißen angestrebte „Kernfamilie“ gab, sondern nur noch indianische Kinder ohne Eltern. Das einzige, was an die alte Sioux-Familiengruppe erinnerte, war, dass die Großeltern nun eine wichtigere Rolle als je zuvor spielten. Da es oft weder Vater noch Mutter gab, waren es die Alten, die die Kinder aufzogen, was ja nicht immer das Schlechteste ist.“

Baldambe, ein Hamar aus Südäthiopien, hat Merkmale von Erziehung und Entwicklung der Kinder in seinem kulturellen Erfahrungsbereich prägnant gefasst:
„Am Anfang weiß das Kind nichts. Wenn es mit Fäkalien spielt: ‚Lass das, das ist verboten!‘ Wenn es sich dem Feuer nähert: ‚Woa! Woa!‘(Ruf bei Feuer und Gefahr) So bringt man ihm Verhalten(sweisen) bei. Wenn das Kind älter wird, lernt es die Sprache kennen und das Feuer und die Steine und die Fäkalien. Zum Vater sagt es ‚Vater‘, zur Mutter sagt es ‚Mutter‘, zum Bruder der Mutter ‚Mutters Bruder‘, zum jüngeren Bruder des Vaters ‚Vater‘, zur jüngeren Schwester der Mutter ‚Mutter‘. So lernt es alle Leute kennen. Ein Herz wird ihm in die Augen gelegt. Andere Leute sind andere, seine Leute sind seine. So versteht das Kind, und wenn es versteht, heißt es von ihm: ‚Der Junge von Soundso, ah, er ist herangewachsen, er weiß alles, was man ihm gesagt hat.‘ Seine Augen sind scharfsichtig geworden, er kennt alle Leute und kann sprechen.
Über die Geburt erfährt ein Mädchen durch barjo (Schicksal), die Eltern sagen nichts darüber. Es sammelt Steine und trägt einen an der Hüfte: ‚Das ist mein Kind.‘ Es ordnet andere Steine und gräbt Erde um und sagt dabei: ‚Das ist mein Sorghum. Woardu, woardu, woardu, woardu.‘ (Nachahmung des Mahlgeräusches). Und so mahlt das Mädchen und richtet seinen Mahlstein her, und wenn es den Stein trägt, sagt es: ‚Das ist mein Kind.‘ Ein Junge würde sagen: ‚Das sind meine Rinder.‘
Und ein Mädchen wird zur Frau und ein Junge wird zum Mann.“

In Baldambes Kultur ist Kindheit eine überschaubare Zeit des Lernens durch teilnehmende Beobachtung inmitten eines überschaubaren Personenkreises. Diese Phase endet, wenn die Jungen alt genug sind, um auf den Weiden weitab vom Dorf auf das Vieh aufzupassen. Für die Mädchen beginnt eine Zeit intensiver Mitarbeit bei Feld- und Hausarbeiten. Das funktioniert weitgehend reibungslos, denn Jungen wie Mädchen haben ihre prinzipiellen Aufgaben dann längst verinnerlicht.

Bei den Hopi in Arizona gehört in einem bestimmten Alter die Einweihung in Geheimbünde zur traditionellen Erziehung. Don Talayesya erinnert sich, wie die Erwachsenen die Entscheidung, in welchen Geheimbund ein Junge initiiert werden soll, häufig davon abhängig machen, ob sich der Betreffende bisher als störrisch oder als gefügig gezeigt hat. Beim störrischen Kind empfiehlt man den Geheimbund, der die Prügelstrafe einschließt. Und genau das geschieht mit Don:
„Mein Vater sagte: ‚Ich will, dass er zu den Katschinas geht und geschlagen wird. Es wird ihm gut tun, wenn er eine tüchtige Tracht bekommt und eine Lehre daraus zieht.‘ Meine Mutter und Solemana fingen zu weinen an, aber schließlich stimmten sie zu. Mein Bruder, der als ein ruhiger, gutgearteter Knabe galt, war in den Powamubund aufgenommen worden.
Die komplexen Feierlichkeiten in einem unterirdischen Kulthaus, einer Kiva, enden damit, dass maskierte Götter, Katschinas, mit Yuccaruten ihren Strafritus vollziehen. Die Wunden waren fürchterlich, und jedermann sah, dass Narben bleiben würden. Meine Mutter machte meinem Vater Vorhaltungen wegen seiner Grausamkeit. Er hatte dem Geißler gesagt, er sollte mir die doppelte Tracht geben. Als die Katschinas ohne Masken in die Kiva kamen, erlebte ich eine große Überraschung. Sie waren nicht Geister, sondern Menschen. Ich erkannte sie fast alle und fühlte mich sehr unglücklich, weil mir mein Leben lang gesagt worden war, dass die Katschinas Götter waren. Besonders übel empfand ich es, als ich meinen eigenen Vater sah – und sooft er zu mir herüberblickte, wandte ich das Gesicht ab.“

Der Ethnologe Otto Friedrich Raum hat bei den Dschagga in Ostafrika die sprachlich-erzählende Seite der Erziehung herausgearbeitet: „Die erzieherische Bedeutung von Erzählungen wird von den Dschagga klar erkannt. Ihr Zweck ist es, so sagen sie, die Kinder zu bilden und zu unterhalten und ihnen rechtliche Kenntnisse zu vermitteln, denn bei den Diskussionen vor Gericht erklären die Ältesten ihre Urteile durch das Heranziehen früherer Urteilssprüche und traditioneller Redensarten. Geschichten werden erzählt, um den Kindern Respekt gegenüber ihren Ahnen und Ältesten einzuschärfen. Es wird allerdings zugegeben, dass die Alten gerne Geschichten erzählen, dass es ihnen Freude macht, von ihren Zuhörern bewundert zu werden und dass sie stolz darauf sind, dass man zu ihnen als den Vermittlern von Weisheit aufschaut.
Das Geschichtenerzählen ist ein Vorrecht der erwachsenen und verheirateten Generation. Eigenschaften, die Eltern an ihren Kindern vermissen, werden ihnen anhand von legendären und historischen Persönlichkeiten vorgeführt. Mit erstaunlicher Leichtigkeit entdecken Eltern auch unter den Lebenden Vorbilder, die es wert sind, dass man ihnen nacheifert. Kinder von Nachbarn, Freunden oder Verwandten werden als Beispiel hingestellt, die auch selbst, wenn auch unwissentlich, als Vorbilder agieren müssen!“
Folgt man den Erfahrungen dieser Beispiele, dann müssen erzieherische Grundverhältnisse wie ein warmer Mutterleib sein, das heißt, sie müssen emotionale Sicherheit gewährleisten. Kinder müssen sich sicher sein, dass sie geliebt werden, vorbehaltlos und bedingungslos. Erzieherische Grundverhältnisse müssen dazu beitragen, dem Nachwuchs ein Herz in die Augen zu legen. Dieses ungewöhnliche Bild steht für die Aufgabe, Kindern einen persönlichen Rahmen abzustecken, damit sie sich selbst finden können, wissen, wer sie selbst und andere sind.
Man sieht aber auch, wie in bestimmten Gesellschaften rigorose Strafen für Zöglinge den Anspruch einer vorbeugenden Maßnahme haben. Ob brutale Strafen, von wem auch immer, aus einem „bösen“ Jungen einen zukünftig „guten“ und „klugen“ Mann werden lassen, kann bezweifelt werden. Andere Beispiele aus der Pueblo-Kultur belegen das auch.
Die Erfahrungen bei den Dschagga verweisen auf eine unabdingbare Seite von Erziehung, nämlich auf Erzählen und Gespräch. Sie bedeuten, sich kümmern. Sie bedeuten, ernst nehmen. Sie bedeuten, erzählend mit den Kindern die Welt zu deuten und zu bestehen.

Besonders hinweisen möchten wir auf sein Buch „Andere Völker – andere Erziehung“. Eine pädagogische Weltreise, Edition Trickster im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2001, 252 Seiten, 2 18,50. Nach Stichwörtern – von Aggression bis Vorbilder – gegliedert, beschreibt er darin den Zugang zu Erziehung und den Umgang mit Kindern in verschiedenen Kulturen.

Professor Dr. Erich Renner ist Ethnopädagoge an der Universität Erfurt. Er unternahm Forschungsreisen in viele Teile der Welt.

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